Zwischenstand aus Deutschlands Bartgeier-Nische

Die von LBV und Nationalpark ausgewilderten Bartgeier Wally und Bavaria entwickeln sich prächtig – Jungfernflug steht bevor

Den beiden am 10. Juni vom Nationalpark Berchtesgaden und uns in einer Felsnische im Klausbachtal ausgewilderten jungen Bartgeierweibchen „Bavaria“ und „Wally“ geht es gut. Die noch nicht flugfähigen Vögel haben sich in den vergangen drei Wochen prächtig entwickelt. Unsere Junggeier fressen große Mengen an fleischigen Knochen und haben seit der Auswilderung wahrscheinlich schon eineinhalb Kilo zugelegt. Wer die Entwicklungen bis zum ersten Flug live verfolgen möchte, der kann dies jederzeit über zwei Bartgeier-Live-Webcams miterleben.

Auch die Armschwingen der beiden Vögel sind länger geworden und ihre Flügel wirken breiter. „Waren die Flugübungen in den ersten Tagen nur wildes und eher zufälliges Geflatter, so hopsen die beiden Geierdamen jetzt schon wie auf einem Trampolin deutlich zielgerichteter auf und ab und schaffen Serien von 20 Flügelschlägen hintereinander“, so Bartgeierexperte Toni Wegscheider.

Der Jungfernflug der ersten beiden deutschen Bartgeier über 100 Jahre nach ihrer Ausrottung durch den Menschen wird deshalb nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen. Es kann durchaus passieren, dass Wally und Bavaria bereits kommende Woche zum ersten Mal aus der Nische abfliegen werden. 

Ein mittlerweile eingespieltes Team aus Biologen, Rangern und freiwilligen Helfern vom Nationalpark Berchtesgaden und uns überwacht seit dem Tag der Auswilderung die beiden Bartgeier nahezu rund um die Uhr von einer Beobachtungsplattform in rund 500 Metern Entfernung zur Nische. Vom Beginn der Dämmerung bis zum Einbruch der Dunkelheit entgehen Toni Wegscheider und seinen Kolleg*innen keine Bewegung. „Es vergeht keine Minute, wo nicht jemand durch ein Fernglas in die Nische schaut. Dabei dokumentieren wir jedes Stück Fressen, jede Ausscheidung und jeden Flügelschlag“, erzählt der LBV-Biologe. Diese Mengen an Beobachtungsdaten werden sorgfältig erfasst und liefern spannende Erkenntnisse für spätere Auswertungen.

Fleischige Knochen versorgen die Geier auch mit Flüssigkeit

Nur alle vier Tage werden die beiden Geier mit fünf bis sieben Kilo fleischigen Knochen von den Biologen gefüttert. Dabei nehmen sie durch das Fleisch auch die notwendige Flüssigkeit auf. Da die beiden Bartgeier bereits ab 5 Uhr wach und aktiv sind, werden sie nicht wie ursprünglich geplant morgens vor dem Aufwachen gefüttert, sondern am Abend.

„Das dauert nur wenige Minuten und wir minimieren die Störungen, so dass sie schnell auch wieder vergessen haben, woher das Futter kam. Darüber hinaus bin ich beim Aufstieg zur Nische nur eine kurze Strecke für die Geier zu sehen und ich trage dabei immer die gleiche Kleidung und Ausrüstung“, sagt Wegscheider.

Mit andauerndem Flügelschlagen trainieren die Jungvögel für ihren ersten Flug

Nicht nur beim Körpergewicht, das zur Auswilderung rund fünf Kilogramm betrug, haben die beiden Bartgeierdamen deutlich zugelegt. Auch ihre bereits beeindruckende Spannweite ist weitergewachsen. Das zunächst teilweise noch etwas daunig wirkende Gefieder hat sich verändert und es sind großflächige schokoladenbraune Deckfedern zu sehen. Bavaria und Wally benötigen auch deswegen so viel Futter, weil sie täglich ihre Brustmuskeln für den bald bevorstehenden ersten Ausflug trainieren. „Derzeit schwankt die Anzahl der Flügelschläge pro Tag noch sehr stark und variiert zwischen 80 und 400. Doch erst wenn sie stabil 200 am Tag schaffen, haben sie auch die Ausdauer, um wirklich zum ersten Mal abheben zu können“, erklärt der Bartgeier-Experte.

Bartgeier mit unterschiedlichen Charakteren


Beim Verhalten unterscheiden sich die beiden Bartgeierdamen weiterhin deutlich. Gerade der zunächst deutlich kleineren Wally sieht man das Wachstum der letzten drei Wochen auch äußerlich stark an. Dominierte Bavaria die kleinere Wally am Anfang noch, setzt sich das jüngere der beiden Bartgeierweibchen mittlerweile erfolgreich zur Wehr. „Wir beobachten immer wieder Rangeleien wie unter Kindern zwischen den beiden. Da gönnt die eine der anderen nicht das Fleischstück, obwohl natürlich immer genügend herumliegen. Die beiden respektieren sich aber und es ist noch nie eskaliert. Das ist nicht immer so, denn viele gemeinsam ausgewilderte Junggeier gehen oft nicht gerade zimperlich miteinander um, wie wir von den anderen Auswilderungsstandorten in den Alpen wissen“, erzählt Wegscheider.

Auch wenn beide Bartgeier aktuell sehr tapsig wirken, ist Wally nach den Beobachtungen der Biologen erkennbar neugieriger und unternehmungslustiger. „Wally ist einfach leichtfüßiger und flattert schon viel agiler. Und obwohl sie die Jüngere ist, könnte sie sogar früher mit dem ersten Flug dran sein. Bavaria, die schwerer und größer ist, ist deshalb auch träger und unbeholfen und springt nie auf den abschüssigen Felsen herum, auf denen sich Wally gerne aufhält. Bavaria ist einfach vom Wesen her eher die Gelassene“, berichtet der LBV-Bartgeierexperte. Beide Vögel experimentieren auch gerne mit ihrer Nahrung und testen, wie sie große Knochen herunterbringen und versuchen manche sogar quer zu schlucken. „Wally hat es dann als Erste geschafft, die Knochen so zu drehen, dass sie auch 15-20 Zentimeter lange Stücke herunterbringt, Bavaria würgt dagegen lieber große Fleischbrocken herunter.“

Das Revier der jungen Bartgeier ist voller Leben

Auswilderungsgebiet NP Berchtesgaden | © Hansruedi Weyrich © Hansruedi Weyrich
Auswilderungsgebiet bietet den Bartgeiern einen geeigneten Lebensraum

Rings um die Auswilderungsnische der beiden Bartgeier tobt indes das alpine Leben. So zeigt sich fast jeden Tag ein Gamsrudel in direkter Nähe zur Nische, das die beiden Vögel interessiert verfolgen. Der benachbarte Steinadler fliegt täglich vorbei und dreht seine Runde. „Da in der Felswand über den Bartgeiern allerdings Turmfalken brüten, verhalten sich die beiden wie Bodyguards für das ausgelegte Geierfutter, da die Falken ihre Jungen gegen den Adler verteidigen wollen und deshalb unermüdlich Flugattacken auf ihn fliegen, um ihn in die Flucht zu schlagen“, berichtet Wegscheider.

Ein Beobachtungsstand ist für Besucher eingerichtet


Auch am offiziellen Bartgeier-Infostand für Wanderer an der Halsalm, der auf einer Wanderroute liegt, schauen derzeit täglich mehr als 60 Besucher*innen vorbei, um Bavaria und Wally von dort zu beobachten. Aus rund 800 Meter Entfernung hat jede*r mit den bereitgestellten Spektiven und Ferngläsern einen sehr guten Blick direkt auf das Treiben in der sechs mal 20 Meter großen eingezäunte Felsnische. Viele Besucher*innen zeigen sich dabei auch sehr beeindruckt von einem lebensgroßen Bartgeier-Plakat mit der ausgetreckten Flügelspannweite von knapp drei Metern.

GPS-Sender | © Hansruedi Weyrich © Hansruedi Weyrich
Auch nach ihrem ersten Flug werden die Junggeier - mit GPS-Sendern - überwacht

Live dabei sein in der Bartgeier-Nische per Webcam


Sehr großer Beliebtheit erfreuen sich bei Bartgeier-Fans in ganz Deutschland die beiden Live-Webcams, auf denen im Internet das Geschehen in der Nische mitverfolgt werden kann. Hier ist über die Mikrofone auch immer wieder das Trillern der beiden Bartgeier gut zu hören, wenn sie miteinander interagieren. In den ersten drei Wochen wurde die LBV-Webseite knapp 170.000 Mal aufgerufen. Im begleitenden Gästebuch tauscht sich eine interessierte Community täglich über Neuigkeiten von Bavaria und Wally aus und die Bartgeier-Experten beantworten die gestellten Fragen.

Der selbständige erste Ausflug der beiden Vögel dürfte in Kürze bevorstehen. „Wir rechnen damit, dass die Wally und Bavaria im Alter zwischen 115 bis 120 Lebenstagen ihren Jungfernflug unternehmen, deshalb blicken wir mit großer Spannung auf die kommende Woche“, sagt Nationalpark-Projektleiter Ulrich Brendel.

Zum Projekt

Der Bartgeier (Gypaetus barbatus) zählt mit einer Flügelspannweite von bis zu 2,90 Metern zu den größten, flugfähigen Vögeln der Welt. Anfang des 20. Jahrhunderts war der majestätische Greifvogel in den Alpen ausgerottet. Im Rahmen eines großangelegten Zuchtprojekts werden seit 1986 im Alpenraum in enger Zusammenarbeit mit dem in den 1970er Jahren gegründeten EEP der Zoos junge Bartgeier ausgewildert. Das europäische Bartgeier-Zuchtnetzwerk wird von der Vulture Conservation Foundation (VCF) mit Sitz in Zürich geleitet.

Während sich die Vögel in den West- und Zentralalpen seit 1997 auch durch Freilandbruten wieder selbstständig vermehren, kommt die natürliche Reproduktion in den Ostalpen nur schleppend voran. Ein von uns initiiertes Projekt zur Auswilderung von jungen Bartgeiern im bayerischen Teil der deutschen Alpen greift dies auf und unterstützt in Kooperation mit dem Tiergarten Nürnberg und dem Nationalpark Berchtesgaden die alpenweite Wiederansiedelung. Dafür werden in den kommenden Jahren im Klausbachtal junge Bartgeier ausgewildert – im Jahr 2021 erstmals in Deutschland. Der Nationalpark Berchtesgaden eignet sich aufgrund einer Vielzahl von Faktoren als idealer Auswilderungsort in den Ostalpen. 

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© Ralph Sturm

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