VOGELSCHUTZ 1-23

Vogel des Jahres 2023 Das Braun- kehlchen VOGEL- UND NATURSCHUTZ IN BAYERN magazin 1|2023 Neues Abkommen Wie geht es nach Montreal weiter? Neuer Film Über die Kinodoku Vogelperspektiven Neuer Name LBV steht nun für Vogel- und Naturschutz

2 LBV MAGAZIN 1|23 Reisen in die Welt der Vögel birdingtours GmbH, Kreuzmattenstr. 10a, 79423 Heitersheim, Tel. 07634/5049845, info@birdingtours.de In unserem Katalog nden Sie über 100 Vogelbeobachtungs- reisen für Einsteiger, Fortgeschrittene und Pro s in Deutschland, Europa und weltweit Anfordern können Sie unseren Katalog auf unserer Webseite unter www.birdingtours.de/service/katalog oder per Telefon Vogelbeobachtung bedeutet Entspannung, Eintauchen in die Natur und Erholung für Körper und Seele 2023 www.birdingtours.de Empfohlen von: Reisen in die Welt der Vögel Kommen Sie mit raus! 09174-4775-7023 naturshop@lbv.de lbv-shop.de Insekten- Appartement aus Lärchenholz Das 1x1 der Vogel-Nistkästen NISTHILFEN FÜR VÖGEL UND INSEKTEN Starenkasten aus Holz Insektenhotel Villach aus Eschenholz Wetterfeste Kinderstube im Holzbetonkorpus WildbienenKinderstube XL im Schutzgehäuse Nistkästen aus atmungsaktivem Holzbeton.

LBV MAGAZIN 1|23 3 die Umbenennung unseres Mitgliedermagazins nach fast 45 Jahren scheint, entgegen der ein oder anderen Befürchtung unsererseits, auch aus Ihrer Sicht mehr als überfällig gewesen zu sein. Zumindest deute ich so den nahezu geräuschlosen Übergang bei der letzten Ausgabe. Was die Umbenennung des LBV nach 83 Jahren angeht, so wollen wir es nicht nur bei einer Kurzmeldung belassen, sondern blicken in dieser Ausgabe gezielt in einem längeren Gespräch mit LBV-Geschäftsführer Alf Pille auf die Hintergründe (S. 36). Fünf Jahre ist es her, seit die Filmemacher Ingo Fliess und Jörg Adolph zum Kennenlernen in die LBV-Landesgeschäftsstelle nach Hilpoltstein kamen. Damals hatten wir keine Vorstellung, was einmal daraus werden würde. Jetzt sind wir stolz, dass es der LBV in der neuen bundesweiten Kinodoku Vogelperspektiven als Vertreter der deutschen Naturschutzorganisationen auf die große Kinoleinwand geschafft hat. Der Film zeigt eindrucksvoll unsere Faszination und unseren Einsatz für Vögel. Als ich vor einem Jahr die finale Filmversion auf einem kleinen Bildschirm zum ersten Mal sehen durfte, muss ich gestehen, dass nicht nur mir vor Rührung und Stolz Freudentränen in den Augen standen. Daher meine uneingeschränkte Kinoempfehlung an Sie und alle, denen Sie schon immer mal vom LBV erzählen wollten: Vogelperspektiven, der neue Film von Jörg Adolph (siehe auch das Interview auf S. 20). Liebe Leserinnen und Leser, Der LBV auf großer Kinoleinwand! Die Teilnehmenden der LBVDelegiertenversammlung kamen bereits Ende Oktober in Amberg in den exklusiven Genuss, die Dokumentation Vogelperspektiven in einer Vorab-Premiere in einem Kino zu sehen. Vor-Premiere E D I T O R I A L FOTO: KATHARINA HUBMANN Tagesaktuelle Nachrichten finden Sie unter lbv.de/newsletter lbv_bayern lbv.de VOGEL- UND NATURSCHUTZ IN BAYERN LBV magazin Viel Spaß im Kino, wünscht Ihnen Markus Erlwein Chefredakteur

4 LBV MAGAZIN 1|23 ID-Nr. 23133197 Dieses Druckerzeugnis ist mit dem Blauen Engel ausgezeichnet. www.blauer-engel.de/uz195 · ressourcenschonend und · umweltfreundlich hergestellt · emissionsarm gedruckt XW1 überwiegend aus Altpapier Sie lesen klimaneutral und umweltfreundlich 12 20 24 Erfahren Sie alles Wichtige über das Braunkehlchen, den Vogel des Jahres 2023. Im Rappenalptal wurde ein wertvoller alpiner Lebensraum zerstört. Die Endergebnisse der Stunde der Wintervögel 2023. TITELBILD: BRAUNKEHLCHEN | GUNTHER ZIEGER FOTOS: ANDREAS HARTL, JONAS EGERT, TANJA KÖNIG, MARKUS GLÄSSEL I NH A L T 38 Interview mit dem Regisseur des Films Vogelperspektiven. 6 Im Fokus Kinofilm Vogelperspektiven 8 Leserbriefe 9 Kurzmeldungen 10 Standpunkt Dr. Norbert Schäffer 12 Das Braunkehlchen Vogel des Jahres 2023 18 B raunkehlchen in Bayern Hier ist der Vogel des Jahres gut zu beobachten 20 Vogelperspektiven Interview mit Regisseur Jörg Adolph 24 Zerstörung des Rappenalpbachs Die besondere Bedeutung alpiner Wildflüsse in Bayern 26 Spendenaktion Im Einsatz für das Braunkehlchen! Einhefter • Spenden-Überweisungsträger • Mitgliederwerbekarte INHALT

LBV MAGAZIN 1|23 5 40 Streifzug durch das LBV-Schutzgebiet Im G‘spring. 28 LBV AKTIV 34 NAJU Neues von der Naturschutzjugend 36 Aus dem LBV LBV steht zukünftig für „Landesbund für Vogel- und Naturschutz“ 38 Mitgliederservice Ergebnisse der Stunde der Wintervögel 39 Stiftung Kontinuität und Wandel 40 LBV-Schutzgebiet Im G‘spring – ein ökologisches Kleinod 42 Aus dem LBV • Martina Weber folgt auf Thomas Kempf • 4. Bayerische Biodiversitätstage 43 Erbschaft Vermächtnisse helfen, wertvolle Biotope in Bayern zu retten 44 Die Uhr tickt Über das Weltnaturabkommen von Montreal 46 Umweltbildung • Kindergarten-Projekt zum Vogel des Jahres • Broschüre zur Faszination Wasserwelt 48 Medien Buchempfehlungen 49 Kleinanzeigen 50 Impressum und Kontakte NISTHÖHLEN AUS HOLZBETON lbv-shop.de Katzen- und mardersicher 44 Wir erklären Ihnen, wie es nach dem Abkommen von Montreal weitergehen muss.

DREHARBEITEN ZUM KINOFILM | FOTO: JÖRG ADOLPH VOGEL PERSPEKTIVEN 6 LBV MAGAZIN 1|23

Ich hätte gerne im Film gezeigt, wie die s chönen Vogelbilder entstehen können, a ber leider hat die Szene im fertigen Film keinen Platz g efunden. In diesem Fall endete die Szene mit einem langen Schwenk im Rainer Wald, in dem man Ra lph Sturm (links), als Naturfotograf nebe n unserem Kamera- mann Daniel Schönauer kaum erkennt, weil er so gut getarnt ist. FILMREGISSEUR JÖRG ADOLPH LBV MAGAZIN 1|23 7

8 LBV MAGAZIN 1|23 L E S E R B R I E F E Ihre Meinung ist uns wichtig! Schreiben Sie uns unter leserbriefe@lbv.de oder per Post an Redaktion LBV magazin, Eisvogelweg 1, 91161 Hilpoltstein. Die Redaktion behält sich aus Platzgründen eine Auswahl und das Kürzen von Leserzuschriften vor. Leserbriefe geben nicht die Meinung der Redaktion wieder. i Post Spende aus Abgassoftware-Entschädigung Vor einiger Zeit haben wir von einem großen deutschen Automobilhersteller eine Entschädigung für manipulierte Abgassoftware erhalten. Da unser persönlicher Schaden hierdurch überschaubar ist und weil wir finden, dass sich das verursachende Unternehmen und andere zu wenig um die durch ihr Fehlverhalten verursachten Schäden an der Natur kümmern, haben wir beschlossen, den Großteil dieser Entschädigung an Umweltschutzverbände zu spenden. Neben Spenden werden wir den restlichen Betrag in die Verjüngung unseres Gartens stecken. Wir wohnen in einem niederbayerischen Dorf und haben in unserem über 2000 m² großen Garten einen alten Baumbestand. Bis zu 30 m hohe Lärchen, Kiefern, Fichten, eine Trauerweide und diverse Laubhölzer bieten Schutz und Wohnraum für die verschiedensten Tiere. Gerade die hohen Bäume werden durch die häufiger werdenden Stürme im Siedlungsgebiet zunehmend zur Gefahr, daher müssen wir diese schweren Herzens entfernen. Gleichzeitig bietet sich hier die Chance, neue, für den Klimawandel besser gerüstete Gehölze nachzupflanzen. Familie Hoffmeister, 84337 Schönau Zum Artikel „Artenvielfalt durch Fairpachten“ (4/22) Tropfen auf den heißen Stein Barbara Ströll befasst sich mit der großen Einflussnahme auf die schonende Nutzung, die in Deutschland die Verpächter von Agrarflächen nehmen könnten. Vor diesem Hintergrund sind die Bemühungen von Frau Ströll sehr löblich, weil die Problematik thematisiert wird, machen mir aber den Eindruck wie der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Meiner Meinung nach müsste die Initiative „Artenvielfalt durch Fairpachten“ von den großen Naturschutzverbänden systematisch mit voller Unterstützung der Verbandsleitung und politischen Entscheidungsträgern angegangen werden. Es gibt sicherlich zahlreiche private Verpächter (auch Naturschützer), die vielleicht noch gar nicht darüber nachgedacht haben, was mit ihren Böden bei intensiver konventioneller landwirtschaftlicher Nutzung (viel Gift und viel Dünger) letztlich passiert – keine Humusneubildung, sondern eine Auszehrung des Bodens wegen Vernichtung der Mikroorganismen und der Lebewesen im Boden. Ist der Boden ausgelaugt und bringt kaum Erträge mehr, kann ihn der Pächter nach Ablauf der Pachtzeit wieder zurückgeben. Nur: Bei diesem Szenario gibt es hauptsächlich Verlierer und zwar die Fruchtbarkeit der Agrarböden, die natürliche Infrastruktur wie Hecken und Randstrukturen, die darauf angewiesene Flora, Fauna und Vogelwelt mit ihrer Artenvielfalt und nicht zuletzt die Verpächter, die mit heruntergewirtschafteten Böden dastehen und viele Jahre zum Humusaufbau benötigen. Die Intention von Frau Ströll kann ich nur sehr unterstützen. Soll die Initiative für die Natur spürbaren Erfolg haben, müssten die Naturschutzverbände ganz offiziell die großen Landverpächter (Kirchen, Kommunen) und über die regionale Presse oder direkt auch die ehemaligen Kleinbauern einschließlich der eigenen Mitglieder (mit Agrarhintergrund) kontaktieren. Erich Helfrich, 97332 Volkach Fan-Aquarell „Ich habe von Anfang an für das Braunkehlchen plädiert und somit auch zu Beginn der Abstimmung eine entsprechende Aquarellskizze angefertigt.“ Joachim Oster, 80337 München Besonderer Wintervogel „Ich hatte heute Morgen Besuch am Gartenteich. Er hat wohl den ein oder anderen Goldfisch ‚geangelt‘, aber er muß ja auch leben.“ Joachim Czeicke, 93170 Bernhardswald FOTOS: JOACHIM OSTER, JOACHIM CZEICKE, PETER BRIA, DR. MICHAEL WITTMANN, EVA SCHUBERT, ULI MÜNCH Zum Artikel „Für eine naturverträgliche Energiewende“ (4/22) Einfach mal loben Ich bin wohl eher als kritischer Mensch bekannt, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Aber nun muss ich einfach mal loben! Der Seiten 12–21 sind nach meiner Ansicht ein Meisterstück. Fundiert, verständlich, präzise die Lage erklärt, und die Standpunkte vom LBV bzw. die Kritik an Bundes- und Landesregierung offen vertreten. Auch z.B. die Flächenvorteile von PV und Wind gegenüber Biogasmais – super! Der Gastbeitrag auf den Seiten 22/23 von Herrn Göttle schließt sich da nahtlos an. Fester Standpunkt und Belege mit den neuesten Untersuchungen. Die Seite 38 – Streuobstbaumförderung – ist extrem wichtig und prima mit den verschiedenen Links. Danke! Und dann auch noch das Interview von Jasmin Helm mit Barbara Ströll zum Thema Fairpachten: Es führt locker, aber informationsreich ins Thema ein, so dass vielleicht der ein oder andere Leser mit einem geerbten Acker sich aufrafft, etwas zu tun. Oliver Wittig, 80689 München

Umweltminister startet Biodiversitätsprojekt in Nordhalben In den kommenden Jahren soll im Rahmen des vom Bayerischen Naturschutzfonds geförderten Projekts „NORDHALBEN: KLEINFLÄCHIG-VIELFÄLTIG-GROSSARTIG“ die kommunale Biodiversitätsstrategie des Marktes Nordhalben im oberfränkischen Landkreis Kronach umgesetzt werden. In diesem Zusammenhang überreichte Umweltminister Thorsten Glauber einen symbolischen Förderscheck über rund 365.000 Euro unter anderem an den LBVEhrenvorsitzenden Ludwig Sothmann. Ein Schwerpunkt liegt hierbei in der Sicherung und Entwicklung artenreicher Wiesen, die heutzutage extrem selten geworden sind. Die ursprüngliche Vielfalt an Pflanzen und Tieren soll zurückgewonnen werden. Das Projekt wird von einer Trägergemeinschaft aus der Stiftung Bayerisches Naturerbe, dem bayerischen Naturschutzverband LBV und dem Markt Nordhalben durchgeführt. Gezwitscher Praktische Naturschutztipps für Stadtoberhäupter Viele bayerische Gemeinden und Städte wollen mehr Artenvielfalt in ihre Siedlungen bringen. Jedoch ist es nicht immer ganz leicht, sich bei dem komplexen Thema Naturschutz zurechtzufinden, und manche Bürgerinnen und Bürger empfinden naturnahe Straßenränder und Verkehrsinseln als ungepflegt oder verwildert. Der LBV möchte Städte und Gemeinden deshalb dabei unterstützen, ihre kommunalen Flächen im Sinne der Artenvielfalt zu pflegen. Dafür haben die Artenschutz-Experten des LBV Coburg eine neue zwölfseitige Broschüre Wie gestalte ich meine Kommune naturnah? mit Naturschutztipps für Bürgermeisterinnen und Bürgermeister erstellt, die ab sofort verfügbar ist. Sie gibt wichtige Praxistipps, um die Artenvielfalt vor Ort zu stärken. So können Kommunen einen wichtigen Beitrag zum Schutz der Artenvielfalt leisten. K U R ZME L DUNG E N Gänsegeier im bayerischen Winter Das Auftauchen eines unmarkierten Gänsegeiers für den Großteil des Januars in Bad Reichenhall hat nicht nur in Fachkreisen für Furore gesorgt. Dass der wohl aus dem Mittelmeerraum stammende und bereits im Dezember im Allgäu mehrfach beobachtete Vogel den hiesigen Winter ohne größere Probleme zu überstehen scheint, ist bemerkenswert. Es gibt bisher kaum ähnliche Nachweise aus Deutschland. Auch im Allgäu ist zwischenzeitlich ein weiterer unmarkierter Gänsegeier nachgewiesen worden. In Zukunft ist durchaus mit immer häufigeren Beobachtungen von Gänsegeiern um diese Jahreszeit bei uns in Bayern zu rechnen, wenn sich die Winter genauso entwickeln wie der aktuelle. Die schweren Vögel sind für weite Flüge auf warme Aufwinde angewiesen, daher dürften sie noch einige Zeit unfreiwillig in den Regionen bleiben. Zwei Quellbäche bei Forchheim zerstört Mitte Dezember wurden im nördlichen Landkreis Forchheim in einer Gemeinde gleich zwei Quellbereiche im gleichen EU-Schutzgebiet systematisch zerstört. Zunächst wurden Teile des Eggerbachs ohne Genehmigung durch Baggerarbeiten massiv beschädigt, dann wurde ein zweiter stark zerstörter Kalktuffbach bei Drügendorf vom LBV entdeckt. Dort wurde ein Hangende samt seinen Kalktuffstrukturen auf mehreren Metern komplett weggebaggert und stattdessen schwere Steine aufgeschichtet und ein eiserner Trog aufgestellt. Der Ablauf der Quelle bei Drügendorf ist nicht mehr wiederzuerkennen. Wie schon beim Eggerbach ist das Gebiet nach europäischem Recht streng geschützt, da Quelle und Bach stark bedrohten Tierarten wie dem Feuersalamander und dem seltenen Starknervmoos als einzigartiger Lebensraum dienen. Der LBV hat Anzeige gegen unbekannt erstattet. LBV MAGAZIN 1|23 9

10 LBV MAGAZIN 1|23 T H EMA DR. NORBERT SCHÄFFER LBV-VORSITZENDER Ab dem 16. Februar 2023 kommt der Dokumentarfilm Vogelperspektiven ins Kino. In diesem Film wird neben atemberaubenden Vogelaufnahmen am Beispiel des LBV gezeigt, wie ein Vogel- und Naturschutzverband heute arbeitet. Vogelperspektiven blickt sozusagen hinter die Kulissen und gibt einen – fast möchte man sagen – intimen Einblick in das Tagesgeschäft des LBV. Ich hoffe, dass Sie Gelegenheit haben, diesen Kinofilm zu sehen. Bitte schreiben Sie uns, wenn Sie anschließend Kommentare oder Fragen zu unserer Arbeit haben. Braunkehlchen – Vogel des Jahres 2023 Fast 135.000 Vogelbegeisterte haben sich an der diesjährigen Wahl zum Vogel des Jahres beteiligt – und das Braunkehlchen zum Sieger gekürt! Ehemals häufig und weit verbreitet, ist dieser kleine Wiesenbrüter heute weitgehend aus unserer Landschaft verschwunden. Der LBV engagiert sich seit vielen Jahren für den Schutz des Braunkehlchens, beispielsweise in Oberfranken – in vielen Fällen erfolgreich. Aber wir müssen die Situation in den Brutgebieten unbedingt verbessern. Im Moment halten sich Braunkehlchen noch in ihrem Winterquartier südlich der Sahara auf. Nicht nur die Umstände dort entscheiden über das Überleben „unserer“ Braunkehlchen, auch der Schutz der Vögel auf ihrer Reise ins und aus dem Überwinterungsgebiet ist unentbehrlich. Dies wohl wissend hat der LBV beschlossen, sein Engagement im Zugvogelschutz deutlich auszubauen. In wenigen Wochen kommen unsere Braunkehlchen zu uns zurück. Hoffentlich! Fischotter und Wolf nicht für Wahlkampf instrumentalisieren Im Oktober 2023 ist Landtagswahl in Bayern. Der Wahlkampf aller Parteien läuft bereits auf vollen Touren. Ich verstehe selbstverständlich, dass in einem Wahlkampf vieles pointierter und aggressiver formuliert wird als außerhalb der Wahlkampfzeit. Andererseits sollten auch hier Grenzen eingehalten werden. Wenn Politiker bei Wahlkampfveranstaltungen die selbstverständlich lediglich rhetorische Frage stellen „Wozu brauchen wir den Wolf und den Fischotter?“, führt dies nur zu einer Polarisierung und Spaltung der verschiedenen Seiten und nicht zu einer Lösung von Problemen. Klar bekommt man für derartige Fragen an den Stammtischen und Bierzelten Bayerns oftmals großen Applaus. Aber was hilft das? Selbstverständlich haben Arten – auch Fischotter und Wolf – eine Daseinsberechtigung, selbst wenn wir Menschen keinen unmittelbaren Vorteil daraus zu ziehen scheinen. Dies bestreitet übrigens im Hinblick auf den Fischotter auch der mit uns befreundete Landesfischereiverband (LFV) nicht. Wo der Fischotter unvermeidbare Schäden beispielsweise in der Teichwirtschaft anrichtet, müssen wir gemeinsam pragmatische, fachlich fundierte Lösungen entwickeln. Wahlkampfgetöse ist hier störend. Der LBV fordert Politikerinnen und Politiker dringend auf, der Versuchung zu widerstehen, Konfliktarten wie Fischotter und Wolf für billige, letztendlich aber sehr destruktive Aussagen im Wahlkampf zu instrumentalisieren. Klima-Kleber und Verzweiflung Der weltweite Zustand unserer Umwelt ist desolat. Nach António Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, befinden wir uns auf einem „Highway zur Klimahölle mit unserem Fuß auf dem Gaspedal“, so geäußert beim Klimagipfel in Sharm El-Sheikh, Ägypten, vergangenen November. US-Präsident Joe Biden befürchtet, dass das Überleben des Planeten auf dem Spiel steht. Markige Worte von mächtigen Menschen, an Dramatik kaum zu übertreffen. In Deutschland kleben sich Menschen mit den Händen auf Straßen, um auf die drohende Klimakatastrophe aufmerksam zu machen. Sie fordern ein Tempolimit auf Autobahnen – wie übrigens auch zwei der drei in der Regierung verS T A ND P UN K T die Arbeit des LBV Intime Einblicke in Eine Polarisierung im Wahlkampf führt zu keiner Problemlösung

LBV MAGAZIN 1|23 11 tretenen Parteien – und ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket für den ÖPNV – welches für 49 Euro mittlerweile beschlossen wurde. Keine wirklich unrealistischen Forderungen also. Jetzt kann man von den Aktionen der sogenannten KlimaKleber halten, was man möchte, und es ist sicherlich nicht Stil des LBV, derartig vorzugehen. Die Klimaschutzforderungen aber teilen wir. Es ist interessant zu sehen, wie sich einige Politiker*innen und Teile der Boulevardpresse hämisch freuen, wenn ein „Klima-Kleber“ im Urlaub auf Bali „ertappt“ wird. Landstreckenflüge sind ohne Zweifel eine große Umweltbelastung und das Verhalten könnte man als Doppelmoral bezeichnen. Der eigentliche Skandal aber ist, dass viele Politikerinnen und Politiker, die die Macht haben Veränderungen herbeizuführen, den besorgniserregenden Zustand unseren Planeten immer noch nicht so ernst nehmen, dass sie darauf konsequentes Handeln folgen lassen. Bali-Reise hin oder her – wir haben ein gigantisches Klimaproblem vor uns, das es zu lösen gilt! Bayerischer Streuobstpakt entfaltet große Dynamik Der Bayerische Streuobstpakt (streuobstpaktinbayern.de), der auf unser erfolgreiches Volksbegehren Artenvielfalt „Rettet die Bienen!“ zurückgeht und an dessen Entstehung der LBV maßgeblich beteiligt war, hat seit seiner Unterzeichnung im Oktober 2021 eine beachtenswerte Dynamik entwickelt. Ziel ist es, die noch vorhandenen Streuobstbestände zu erhalten und zusätzlich bis zum Jahr 2035 insgesamt eine Million neue Streuobstbäume zu pflanzen. Hierfür ist nach Schätzungen des Umwelt- und des Landwirtschaftsministeriums ein Gesamtbudget von 670 Millionen Euro erforderlich. Die im Landeshaushalt vorgesehenen Gelder oder auch die insgesamt 27 neu geschaffenen Stellen für Streuobstberater*innen sind für den LBV ein klarer Beleg dafür, dass es die Bayerische Staatsregierung ernst meint mit der Umsetzung des Streuobstpakts. Aus diesem Grund haben wir Anfang Februar unsere Beteiligung an der Klage Folgen Sie mir auf Twitter unter @N_Schaeffer Dr. Norbert Schäffer gegen die Streuobstverordnung zurückgezogen. Wir werden uns auch in Zukunft intensiv bei der Umsetzung des Bayerischen Streuobstpakts engagieren – und ganz genau beobachten, ob die Staatsregierung auch in Zukunft ihren Zusagen treu bleibt. Vogelkonzert hat begonnen In diesen Tagen fangen unsere Buchfinken – übrigens gemeinsam mit der Amsel die häufigste Vogelart Deutschlands – an zu singen. Der Finkenschlag, wie der Gesang der Buchfinken genannt wird, ist für mich alljährlich ein markantes Ereignis, ein untrügliches Zeichen dafür, dass das Frühjahr unmittelbar bevorsteht. Der erste Finkenschlag im Jahr symbolisiert für mich den Startschuss für das größte Konzert weltweit. Ich hoffe, dass Sie meine Begeisterung teilen und sich auf unser Frühjahr mit seinem Vogelstimmenkonzert freuen! KÜCHENSCHELLE I FOTO: ERICH OBSTER Der Zustand unseres Planeten wird noch nicht ernst genug genommen

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FOTO: STEFAN DEINZER Als Verwandter des Rotkehlchens ist das Braunkehlchen bei der Wahl zum Vogel des Jahres 2023 auf den ersten Platz geflogen. Früher auf offenen Feuchtwiesen und Brachen in der Kulturlandschaft Bayerns weit verbreitet, kommt das Braunkehlchen heute nur noch in Restbeständen im Norden und Süden des Freistaats vor. Den größten Teil des Jahres verbringt das Braunkehlchen in seinemWinterquartier südlich der Sahara, in den wechselfeuchten Tropen. Während der winterlichen Trockenzeit jagt es dort in den von Gräsern mit vereinzelten Bäumen und Sträuchern geprägten Savannen nach Insekten. Dabei verteidigt es ein kleines, abgegrenztes Revier. Im Frühjahr ziehen die Männchen vor den Weibchen ins Brutgebiet nach Europa zurück. Wie so viele andere Singvögel fliegt das Braunkehlchen vorwiegend in der Kühle der Nacht, wenn Sterne und Mond ihm den Weg weisen. Sein Weg ist anspruchsvoll und Rastgebiete zum Auffüllen der Fettreserven wichtig. Es überquert die Sahara, die größte Trockenwüste der Erde mit rund 2.000 Kilometern Ausdehnung, ohne Zwischenstopp. Nach dieser unglaublichen Leistung trifft es auf das Mittelmeer. Die westlichen Populationen, die auch nach Deutschland ziehen, folgen der Landzunge von Gibraltar. Somit entkommen sie den Wilderern in Ägypten, Malta und auf Zypern, denen viele Artgenossen immer noch in die Netze fliegen. Heimkehr auf die Wiese Im April kehren die ersten Braunkehlchen nach Bayern zurück. Dabei peilt das Männchen die Wiese an, auf der es im Vorjahr erfolgreich gebrütet hat. Doch monotone, überdüngte Grasflächen, frühe und häufige Mahd und der Rückgang an Insektennahrung machen dem sympathisch wirkenden kleinen Vogel mit der braunorangen Kehle zu schaffen. Ideal sind deshalb Wiesen, deren Bewirtschaftung seit Jahren einem Vertragsnaturschutzprogramm unterliegt. Das Männchen landet dort gerne auf dem Stängel einer vorjährigen Staude am benachbarten Wassergraben und späht nach Insekten am Boden. Auch zum Singen eignet sich der Stängel. So tönt sein etwas raues Lied weit in die Landschaft und hält andere Männchen davon ab, ihr Revier allzu nah aufzuschlagen. Das Braunkehlchen LBV MAGAZIN 1|23 13

T H EMA FOTOS: M. GRAUL/ADOBE STOCK, M. SCHÄF, W. ROLFES, B. TRAPP/ADOBE STOCK, M. KÖNIG Partnerwahl Anfang Mai kehren die ersten Weibchen aus dem Winterquartier zurück, die Brutsaison beginnt. Sobald sich ein Paar gefunden hat, lässt das Männchen seine Partnerin nicht mehr aus den Augen. „Mate guarding“ nennen die Forscher dieses Verhalten, denn Seitensprünge sind wie bei vielen anderen Singvögeln auch beim Braunkehlchen nicht unüblich. Das Weibchen, unauffälliger gekleidet als sein Partner mit der rostorangen Kehle, fast schwarzen „Backen“ und weißem Überaugenstreif, sucht sich einen gut versteckten Ort im hohen Gras am Boden, um sein Nest zu bauen. Seine fünf blauen Eier brütet es zwei Wochen lang aus und unternimmt in dieser Zeit nur kurze Flüge zur Nahrungsaufnahme. Bei diesen wird es von seinem „treuen“ Partner begleitet, der den Rest der Zeit damit verbringt, das Revier zu verteidigen, und sich vielleicht auch mit dem ein oder anderen Weibchen aus der Nachbarschaft trifft. Hungrige Schnäbel Wenn die Jungen Anfang Juni schlüpfen, ist die Mithilfe des Männchens gefragt. Unermüdlich schaffen beide Partner Insekten für die hungrigen Schnäbel herbei. Die Jungvögel hält es dabei nicht lange im Nest. In den ersten Tagen können sie noch nicht fliegen, aber dann verlassen sie es so bald wie möglich. Sie verstecken sich in der hohen Wiesenvegetation. Diesem Umstand ist es geschuldet, dass Schutzprogramme das Mahdregime vertraglich an die Brutsaison der Wiesenbrüter anpassen. Erst ab Mitte Juli dürfen hier die Mähmaschinen fahren, damit die Nester nicht zerstört und versteckte Jungvögel nicht getötet werden. Wird dann noch schonend mit einem Balkenmäher gemäht, überleben viele der Insekten, die Nahrungsgrundlage für Wiesenbrüter und unzählige andere Tiere sind. Vorbereitung auf den Rückflug Ab August nehmen die Braunkehlchen zum zweiten Mal in einem Jahr die Gefahren und Strapazen des langen Flugs nach Afrika auf sich. Wo werden sie am Weg Nahrung finden? Wie ist die Situation in den Savannen Afrikas? Das Überwinterungsgebiet ist weitgestreckt und reicht vom Senegal bis Äthiopien, von der West- bis zur Ostküste. Dadurch verteilen sich die Vögel über eine große Fläche und sind so nicht gleichermaßen von etwaigen Gefahren betroffen. Generell leidet die Art aber auch in Afrika unter einer zunehmend intensiveren Landnutzung. Hinzu kommen Veränderungen des Niederschlags und der Vegetation, die das Nahrungsangebot einschränken. In Bayern vom Aussterben bedroht In Bayern ist der „Wiesenschmätzer“ vom Aussterben bedroht. Beginnend mit der Flurbereinigung in den 1950er Jahren hat sich der Rückgang der Braunkehlchenpopulationen in den letzten Jahrzehnten dramatisch verschärft. Die fortschreitende Intensivierung der Landwirtschaft, aber auch die Verbuschung offener Flächen sind die Hauptursachen für diese dramatischen Populationsrückgänge. Überdüngung führt zu monotonen Wiesen, die zwar rasch wachsen und oft gemäht werden können, aber artenarm sind. Die frühe und häufige Mahd hat oft tödliche Auswirkungen auf Jung- und Altvögel. In ganz Europa sind die Bestände in den letzten Jahrzehnten je nach Region um 50 bis weit über 90 Prozent zurückgegangen. Das hilft dem Braunkehlchen Kurzfristig hilft es dem Braunkehlchen, Wiesen wieder strukturreicher zu gestalten. Bambusstöckchen, Elefantengras oder Schilf dienen ihm als künstliche Sitzwarten. Einem Cluster mehrerer hundert Stecken in der Nähe von Brut- und Nahrungsflächen kann kein Braunkehlchen widerstehen. Auch Altgrasstreifen, die über mehrere Jahre stehenbleiben, Wie im Vorjahr bei der Wahl zum Vogel des Jahres 2022, dem Wiedehopf, stellte ein Fachgremium von NABU und LBV für 2023 fünf Vogelarten zur Wahl, nämlich Braunkehlchen, Feldsperling, Neuntöter, Trauerschnäpper und Teichhuhn. Bundesweit haben sich fast 135.000 Menschen an der Wahl beteiligt, aus Bayern gingen über 14 Prozent der Stimmen ein. UND DER GEWINNER IST ... Braunkehlchen 43,5 % Feldsperling 18,0 % Neuntöter 16,4 % Trauerschnäpper 15,6 % Teichhuhn 6,5 % 14 LBV MAGAZIN 1|23

Steckbrief Name Braunkehlchen (Saxicola rubetra) Verwandschaft Ordnung Sperlingsvögel, Familie Muscicapidae (Fliegenschnäpper). Andere bekannte Vertreter der Familie sind Rotkehlchen, Blaukehlchen, Rotschwänze und Nachtigall. Merkmale Etwas kleiner als Spatz. Gefieder braun mit detaillierter, feiner Zeichnung; in allen Kleidern und Altersstufen heller Streifen über dem Auge, bei Männchen leuchtend weiß; Kehle und Brust namensgebend orangebraun; im Flug weiße Schwanzbasis. „Knicksen“ ähnlich wie Rotkehlchen und wippen mit dem Schwanz. Lebensraum Offene, feuchte Wiesen, Brachen und extensive Weiden. Wichtig sind einzelne Büsche, hohe Stauden oder Zaunpfähle als Sing- und Ansitzwarten. Nahrung Insekten, Würmer und Spinnen, im Herbst auch Beeren. Brutbiologie Monogam, aber Vaterschaften außerhalb des Paars wahrscheinlich. Halbhöhlenartiges Bodennest in dichtem Grasbewuchs mit Hochstauden im nahen Umfeld. Eiablage Ende April bis Anfang Juli; vier bis sieben grünlich-blaue Eier; Schlupf nach knapp zwei Wochen. Jungvögel verlassen nach weiteren zwei Wochen noch flugunfähig das Nest und verstecken sich in Nestnähe. Ersatzbruten üblich. Stimme Variable kurze Strophen mit rauen und knirschenden, auch klaren Elementen; imitiert häufig andere Singvögel; ruft gimpelähnlich „djü“, oft in Verbindung mit schnalzendem Warnruf. Zugverhalten Langstreckenzieher; Männchen kehren vor Weibchen Anfang bis Mitte April aus den Savannen Afrikas südlich der Sahara nach Europa zurück. Wegzug ab Ende Juli bis in den Oktober; rastet gerne in der offenen Agrarlandschaft, z.B. auf Rapsfeldern. Verbreitung Brutvogel von West-Europa bis Sibirien; Verbreitungsschwerpunkt in Russland; in Europa bis ins nördlichste Skandinavien, südlich bis in die mediterrane Zone. Bestand In Europa 5,4 bis 10 Millionen Brutpaare, mehr als die Hälfte davon in Skandinavien und Russland; in Mitteleuropa außer in Polen und Ungarn stark abnehmend; in Deutschland 20.000 bis 35.000 Brutpaare, in Bayern 420 Brutpaare (2021). Gefährdung Verlust offener, strukturreicher Wiesen und Insektennahrung; frühzeitige und häufige Mahd gefährdet Nester und Jungvögel; Verlust von Rastplätzen auf dem Zug und Veränderungen im Überwinterungsgebiet. FOTO: AGAMI PHOTO AGENCY LBV MAGAZIN 1|23 15

16 LBV MAGAZIN 1|23 T H EMA FOTOS: HEINZ TUSCHL, LINUS CADOTSCH bieten dem kleinen Vogel nahrhafte Insekten und Verstecke für Nest und Junge, die es vor dem drohenden Mähwerk bewahren. Wenn wir regionale Bioprodukte kaufen, unterstützen wir Landwirte, die sich für die heimische Natur einsetzen. Der LBV setzt sich ein Die Gebietsbetreuer*innen des LBV setzen sich gemeinsam mit Landwirt*innen für den Schutz der Wiesenbrüter ein. Sie erarbeiten gemeinsam vor Ort umfassende Maßnahmen zur Stärkung der Braunkehlchenpopulationen, der Lebensräume und Lebensgemeinschaften. Der Fokus liegt auf der Erhaltung, Schaffung und Förderung artenreicher Heuwiesen, extensiver Ackerflächen und eines Netzes von Saum- und Brachflächen. Wirtschaftlich attraktive Förderungen der bayerischen Naturschutzbehörden bieten den Landnutzenden einen Ausgleich, damit sich Schutzmaßnahmen mehr lohnen als eine intensive Bewirtschaftung. Die Umsetzung der Maßnahmen begleiten die Gebietsbetreuer*innen gemeinsam mit Biodiversitätsberater*innen für die Landwirtschaft. Wiesen wieder wilder machen Die Botschaft des Braunkehlchens für das Jahr 2023 ist ein Aufruf zur Rettung der letzten Blumenwiesen mit leuchtenden Blüten, summenden Insekten und duftenden Gräsern, die auch uns Menschen als farbenprächtige Sommerwiesen erfreuen. Wir brauchen strukturreiche, extensiv genutzte Feuchtwiesen, die erst spät im Sommer gemäht werden und vielen Insekten Lebensraum bieten. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die sehr ähnliche Forderung des Wiedehopfs im vergangenen Jahr? Braunkehlchen, Wiedehopf und viele andere Vogelarten profitieren von einer naturverträglichen Landwirtschaft in einer strukturreichen Landschaft mit vielen Insekten. Wenn wir einer Art helfen, hat das Auswirkungen auf andere, uns Menschen eingeschlossen. Anstrengende, gefährliche Reise Wir erfahren von den unglaublichen Leistungen der kleinen Vögel durch technische Hilfsmittel, sogenannte Geolokatoren. Dies sind kleine Geräte, die den Tieren umgebunden werden und die die Lichtintensität erfassen. Mit Hilfe der Zeiten von Sonnenaufgang und -untergang können Forscher die jeweilige Position des Tieres und somit auch die Dauer von einem Punkt zum nächsten ermitteln. Manche Vögel, die von britischen Forschern in Nigeria besendert wurden, flogen Strecken, deren Länge die Ausdehnung der Sahara überschreitet, ohne Stopp zur Nahrungsaufnahme. Dabei flogen sie über die Wüste schneller als über Grünland. Wenn die Fettreserven aufgebraucht sind, müssen auch die Ausdauerndsten einige Tage zum „Auftanken“ in insektenreichen Gebieten rasten. DR. ANGELIKA NELSON Biologin, Umweltbildung E-Mail: angelika.nelson@lbv.de Hier ein Steinschmätzer mit Geolokator. Anzahl der Brutpaare 1998 bis 2021 BRUTPAARE IN BAYERN 1998 420 530 757 1.170 0 200 400 600 800 1.000 1.200 2006 2014/15 2021 Weibchen (links) und Männchen (rechts). Daten von Wiesenbrüterkartierungen.

Schon gewusst? FOTOS: MANFRED STÖBER / K.-U. HÄSSLER - STOCK.ADOBE.COM, JANINA KLUG, HEINZ TUSCHL (2), DIETER HOPF Das Braunkehlchen wurde bereits 1987 von LBV und NABU zum Vogel des Jahres gewählt. Seither hat der deutschlandweite Bestand dieses kleinen Wiesenbrüters weiter abgenommen. Er ist stark gefährdet bzw. in Bayern vom Aussterben bedroht. Global wird sein Bestand von der IUCN (2016) als nicht gefährdet eingestuft, allerdings mit rückläufigem Populationstrend, aber derzeit noch sehr großem Verbreitungsgebiet. Unordnung auf der Wiese Mehrjährige Altgrasstreifen erhöhen die Strukturvielfalt und das Angebot an Sitzwarten für das Braunkehlchen. Das Ausbringen künstlicher Sitzwarten in Form von Bambusstecken, Elefantengras oder Schilf verstärkt die Attraktivität eines Gebiets. Zum Brüten müssen allerdings noch weitere Faktoren stimmen. Zäune ohne Grenzen Das Nest des Braunkehlchens liegt oft in der Nähe von Zäunen zur Weidetierhaltung. Vermutlich bietet der Saum an Altgras, der oft unter Zäunen wächst, dem Nest einen guten Schutz. Zudem sind die unteren Zaundrähte ideale Anflugwarten, von denen aus die Vögel die Umgebung sichern, bevor sie zum Nest fliegen. Zum Singen sitzen die Männchen gerne auf den Zaunpfosten, da ihr Gesang von dort weit über die Wiese erklingt. Jetzt oder nie! Wie viele kleine Singvogelarten hat das Braunkehlchen eine geringe Lebenserwartung von durchschnittlich zwei Jahren. Daher ist eine erfolgreiche jährliche Brut sehr wichtig für den Fortbestand der Art. Im Kampf mit der Mahd Die größte Bedrohung für das Braunkehlchen ist eine frühe und häufige Mahd der Wiesen. Das Mähwerk zerstört Nester und tötet Jungvögel. Daher ist eine der wichtigsten Schutzmaßnahmen, in Vertragsnaturschutzprogrammen die erste Mahd nicht vor Mitte Juli anzusetzen. Ein Weltenbummler Das Braunkehlchen ist in 34 Ländern der Nordhalbkugel als Brutvogel nachgewiesen, vom Vereinigten Königreich bis nach Albanien. Den Winter verbringt es in weiteren 58 Ländern der Südhalbkugel, von Senegal bis Sambia. LBV MAGAZIN 1|23 17

T H EMA FOTOS: HELMUT WELLER, ILLUSTRATION: SOPHIE ALP - STOCK.ADOBE.COM Hier ist der Vogel des Jahres gut zu beobachten Braunkehlchen in Bayern Nach aktuellen Ergebnissen der Wiesenbrüterkartierung 2021 hat das Braunkehlchen in Bayern noch zwei Verbreitungsschwerpunkte: im Süden in den Moorgebieten des Alpenvorlands und im Norden auf den extensiv genutzten, feuchten Wiesen Oberfrankens und im Mittelgebirge der Rhön. Auf dem Durchzug können Sie es mit etwas Glück in ganz Bayern auf Wiesen und Feldern entdecken. VON DR. ANGELIKA NELSON Weitere Vorkommen Sie finden den kleinen Wiesenbrüter zum Beispiel noch in den besonders geschützten Natura 2000-Gebieten Ampermoos nördlich des Ammersees sowie auf den Wiesen am Südufer des Ammersees. Dort wurden im Vorjahr 25 bis 33 Brutpaare gesichtet. Auch im Grabenstätter Moos am Chiemsee brüten noch vereinzelt Braunkehlchen und rasten auf dem Durchzug. 18 LBV MAGAZIN 1|23

Murnauer Moos, In einem der größten noch erhaltenen Moorgebiete Bayerns kann man Braunkehlchen von einem gut markierten Rundweg aus beobachten. Erfolgversprechend ist eine Wanderung vom Parkplatz an der Biologischen Station Murnauer Moos nach Südwesten ins Moorgebiet. Mit einem Spektiv sieht man die kleinen Wiesenschmätzer auf der Suche nach Insekten. Eine Beschreibung des Rundwegs gibt’s auf: www.dasblaueland.de/tour/wanderung-moos-rundweg Biosphärenreservat Rhön Dort ist das Braunkehlchen auf den ausgedehnten Wiesenflächen bis in die höchsten Lagen als Brutvogel bekannt. Landkreise Kulmbach, Hof und Kronach Dort fand von 2017 bis 2020 ein intensives Monitoringprojekt in Kombination mit Maßnahmen zur Lebensraumverbesserung statt. Als Folge brüteten im letzten Projektjahr 33 Braunkehlchenpaare im Untersuchungsgebiet. Der Bestand konnte dadurch allerdings nicht gesichert werden, denn die Nachwuchsrate der einzelnen Paare ist weiterhin zu gering. Landkreise Coburg, Kronach und Lichtenfels Dort arbeiten seit 2018 die Ökologische Bildungsstätte Oberfranken, die Wildland-Stiftung Bayern und der LBV in einem Projekt zusammen, um den Schwund der Artenvielfalt in der Agrarlandschaft aufzuhalten. Landwirt*innen, Jäger*innen und Naturschützer*innen verbessern den Lebensraum für die Schirmart Rebhuhn. Doch nicht nur Rebhühner finden wieder Verstecke zur Nestanlage, sondern auch Braunkehlchen nutzen vorjährige Stauden als Singwarten und Feldlerchen brüten auf schütter bewachsenen Flächen. Gebietsbetreuerin Birgit Weis und Dr. Wolfgang Goymann vom Max-Planck-Institut für Ornithologie bieten am 20. Mai 2023 um 9 Uhr eine Exkursion zum Braunkehlchen an. Anmeldung zur Exkursion unter Tel. 08171-27303 oder moore. isar.gebietsbetreuung@lbv.de. Oliver Thaßler, Leiter der Umweltstation Lindenhof, lädt am Freitag, den 26. Mai 2023, um 9 Uhr zu einer Exkursion in die Teuschnitz-Aue ein. Anmeldung unter lindenhof@lbv.de. Die Braunkehlchen in den Abendstunden beobachten, dann hört man bei einsetzender Dunkelheit mit etwas Glück auch den Ruf eines Wachtelkönigs im Moor. Loisach-Kochelsee-Moore Sie waren bisher ein Hotspot für Braunkehlchen. Doch auch hier nehmen die Bestände dramatisch ab. Daher initiierte die Untere Naturschutzbehörde im Landratsamt Bad Tölz-Wolfratshausen gemeinsam mit dem LBV im Jahr 2021 ein dreijähriges Projekt zum Schutz der Braunkehlchen. Brachen, die Extensivierung von Grünland und die Betreuung von Brutpaaren im Wirtschaftsgrünland sollen dem negativen Bestandstrend entgegenwirken. Mehr als 20 Ehrenamtliche sind hier für den Schutz des Braunkehlchens im Einsatz. Auf dem Durchzug Mit etwas Glück können Sie in ganz Bayern auf Wiesen und Feldern Braunkehlchen entdecken. Die Hauptzugzeiten sind Mitte April bis Anfang Mai und dann wieder Ende Juli bis Anfang Oktober, mit einem Höhepunkt der Aktivität zu Anfang September. Besonders auf Rapsfeldern, deren frühe Blüten Insekten anlocken, kann man die flinken Vögel auch im Trupp mit Schwarzkehlchen, Steinschmätzer und Bluthänfling finden. LBV MAGAZIN 1|23 19

I N T E R V I EW Jörg Adolph mit Kamera beim Beobachten der Bartgeier. Dr. Norbert Schäffer und Team beim Bartgeierbeobachten. Filmszene: Ein Kuckuck wird gefüttert. 20 LBV MAGAZIN 1|23

FOTOS: © 2022 IF... PRODUCTIONS / FILMPERLEN (2), JONAS EGERT, DANIEL SCHÖNAUER LBV: Sie haben das Drehbuch zu Vogelperspektiven geschrieben, die Idee zum Film stammt, soweit ich weiß, von Produzent Ingo Fliess. Wie hat alles begonnen? Jörg Adolph: Stimmt, die Idee hatte Ingo, mit dem ich seit Jahren eng zusammenarbeite. Ich war mitten in den Dreharbeiten zu Das geheime Leben der Bäume und erzählte ihm vom Film und von den spannenden Begegnungen mit den Aktivistinnen und Aktivisten. Daraufhin meinte er, wir sollten doch zusammen einen Dokumentarfilm zum zentralen Thema unserer Zeit machen: Ökologie – und dabei herausfinden, ob unter dem aktivistischen Ansatz „Rettet den Planeten“ auch Raum für künstlerisches, dokumentarisches Erzählen ist. Ihm schwebte sofort ein Film über die erstaunliche Welt der Vögel vor, die ja im Vergleich zu Bäumen den Vorteil hätten, dass sie leichter zu filmen sind. Und er hatte auch schon einen Protagonisten im Sinn: Dr. Norbert Schäffer, mit dem er zusammen Abitur gemacht hat und der bereits als Teenager, zur größten Verblüffung seiner Mitschüler, ein kompromissloser Birder war. Norbert Schäffer ist mittlerweile Vorsitzender des LBV. Welches Ziel verfolgen Siemit demFilm? Vögel können fast alles. Aber Sie können kein Feuchtgebiet schützen. Da muss sich schon der Mensch drum kümmern. Diese zentrale Arbeit im Naturschutz möglichst realistisch abzubilden, stand im Zentrum unserer Dreharbeiten. Wir waren fast immer zu zweit unterwegs: Daniel Schönauer an der Kamera und ich mit dem Tongerät. Wenig Technik, flexibles Team, kein großer Fußabdruck. Wir wollten möglichst unauffällig und ohne einzugreifen Norbert bei vielen Begegnungen und Exkursionen begleiten und das über einen längeren Zeitraum. Das Besondere an Vogelperspektiven ist die Vermischung aus Dokumentarfilm und Naturdoku. Welchen besonderen Reiz macht das für Sie aus? Ich wollte einen anderen Naturfilm machen, mich in vielen kleinen ästhetischen Entscheidungen von den in Schönheit und oft auch Kitsch erstarrten Genrekonventionen im Naturfilm unterscheiden. Mir fehlt es an Artenvielfalt und Nachhaltigkeit im Genre des Tier- und Naturfilms. Das ist doch eine ziemlich auf Effekt und Effizienz gebürstete filmische Monokultur. Mir ging es dagegen um ein anderes Narrativ, um den Wildwuchs, um das Wünschenswerte, um das Beiläufige. Dabei ist mir vor allem der Kontrast zwischen Aktivismus und Kontemplation wichtig geworden, die Zweistimmigkeit im Film und was als Montageprodukt daraus entsteht. Auf der einen Seite die faszinierenden Vogelbilder – gerne länger und genauer gezeigt als üblich – und dann der harte Schnitt zu den Resopaltischen, wo über Naturschutzfragen diskutiert wird. Es ist eine einfache Methode, die ich praktiziere: Ich begleite ohne Interviews und Kommentar Menschen in Ab Mitte Februar ist der Dokumentarfilm Vogelperspektiven in den deutschen Kinos zu sehen. Einer der Hauptdarsteller ist der LBV in Person seines Vorsitzenden Dr. Norbert Schäffer. Wir haben mit dem Filmemacher Jörg Adolph über kitschige Naturfilme, geplatzte Tschernobyl-Drehtermine und einen Vergleich mit Peter Wohlleben gesprochen. INTERVIEW: MARKUS ERLWEIN Interview mit Regisseur Jörg Adolph Der Film ist eine Art Kuckucksei Filmperlen präsentiert einen Film der if… Productions in Koproduktion mit SWR/BR gefördert vom FFF Bayern, DFFF, BKM, FFA mit Norbert Schäffer, Arnulf Conradi Buch & Regie: Jörg Adolph Montage: Anja Pohl Bildgestaltung: Daniel Schönauer Vogelaufnahmen: Rita und Michael Schlamberger, Hans-Martin Ringelstein, Ralph Sturm, Rudolf Diesel uva. Tongestaltung: Jörg Elsner, Max Bauer, Normann Büttner Tonmischung: Michael Hinreiner Sprecherin: Bärbel Wossagk Musik: Acid Pauli Grafik und Visuelle Effekte: Matthias Rothe Postproduktion & Colorist: Fabian Spang Herstellungsleitung: Luzie Lohmeyer Redaktion: Simone Reuter (SWR), Gabriele Trost (SWR), Petra Felber (BR) Produzent: Ingo Fliess www.vogelperspektiven-derfilm.de Ein Film von Jörg Adolph („Das geheime Leben der Bäume“) „Das Erlebnis, den Vogel in seiner Schönheit und Lebendigkeit wahrzunehmen, ist wie eine Senkrechte in der Zeit. In dem Moment gibt es nichts anderes, du bist ganz im Hier und Jetzt.“ - Arnulf Conradi LBV MAGAZIN 1|23 21 Das offizielle Plakat zum Film. Ausführliches Gespräch mit Jörg Adolph in einer Sonderfolge des LBVPodcasts „Ausgeflogen!“.

FOTOS: © 2022 IF... PRODUCTIONS / FILMPERLEN (2) ihrem Arbeitsumfeld, so entstehen ungestellte Szenen, die in der Montage zu Geschichten verdichtet werden können. Und genau dafür hat sich die Arbeit des LBV-Vorsitzenden Dr. Norbert Schäffer gut geeignet? Ja. Denn beeindruckt hat mich, wie es Norbert immer wieder schafft, klar und entschieden aufzutreten und dabei gesprächsfähig und in gutem Kontakt zu bleiben. Dazu gehört auch, dass er Politiker loben kann, wenn sie gute Naturschutzarbeit leisten. Er erklärte mir einmal, es langweile ihn, an einem Tisch mit Naturschützern zu sitzen, die sich alle einig sind in ihrer berechtigten Klage über den elenden Zustand unserer Welt. Er möchte lieber mit Leuten sprechen, die vielleicht ganz anderer Meinung sind, aber diese dann mit guten Argumenten bearbeiten. Und er möchte offen für neue Lösungen sein. Und genau das haben Sie auch bei Ihren Dreharbeiten erlebt? Das haben wir vielfach erlebt. Beim LBV gibt es tendenziell keine Feindbilder, sondern Norbert bleibt immer ein kompetenter Ansprechpartner, der zu vielen Menschen in Wirtschaft und Politik einen direkten Draht hat. Sein Ego erdrückt nichts und niemanden, er lässt alle leben, kommt bescheiden und leise daher und bewegt gerade dadurch enorm viel. Er ist der ideale Protagonist für eine andere Art von Naturfilmerzählung. Denn so sieht heute gute Naturschutzarbeit aus, so humorvoll und geduldig, so intensiv und fachkundig. Die Vögel helfen ihm dabei, denn Vögel mag fast jeder. Und Vögel sind gute Indikatoren für den Zustand unserer Natur. Sie zeigen uns unmissverständlich, wie es um die Natur steht: „Wenn die Vögel sterben, sind auch die Menschen nicht mehr lange sicher.“ Und wie sind Sie auf die Idee gekommen, den Autor Arnulf Conradi als zweiten Protagonisten zu integrieren? Für Vogelperspektiven habe ich meinen Dokumentarstil mit den großen Bildern des Naturfilms und den persönlichen Erzählungen von Arnulf Conradi kombiniert. Dessen Buch Zen oder die Kunst der Vogelbeobachtung hat mich sehr beeindruckt. Es erzählt viel von den Glücks- und Ruhemomenten bei der Vogelbeobachtung. Und ich wollte mit ihm als Sprecher seiner Texte eine zusätzliche, emotionale Perspektive auf die Welt der Vögel eröffnen. Auch die Filmmusik von Acid Pauli unterscheidet sich deutlich von den geläufigen Naturfilm-Soundtracks. Der Film ist so eine Mischform aus klassischer dokumentarischer Beobachtung im Stil des „direct cinema“ und Naturfilmerzählung im Geist des „nature writing“. Vielleicht ist der Film eine Art Kuckucksei. Die Schale mag sich dem Genre des Naturfilms annähern, aber im Kern ist es ein klassischer Dokumentarfilm. Es geht mir um das Zusammenspiel von poetischem und politischem Aktivismus. Inwiefern hat Ihnen Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht? Mussten Sie Pläne komplett verwerfen oder dachten Sie vielleicht sogar mal ans Aufhören? Es waren ursprünglich auch einige gemeinsame Reisen geplant, vor allem ins „Birding“-verrückte England, aber auch in die Katastrophenregion rund um Tschernobyl, die jetzt „by desaster“ zwangsläufig ein Naturschutzgebiet geworden ist. Dann – direkt vor Drehbeginn – kam die Corona-Pandemie und änderte alles. Plötzlich war Norberts sonst randvoller Kalender leer, fast alle LBV-Termine wurden abgesagt und Besprechungen gab es nur noch online. Das Maskentragen ist epidemiologisch wichtig, aber filmisch eher undankbar, ebenso die 1,5-Meter-Abstandsregelung im täglichen Miteinander. Was soll man so filmen, wie eine Beziehung zu den Protagonisten aufbauen? Wir hätten auch etwas pausieren können, aber keiner konnte wissen, wie lange die Krise anhalten würde. Selbst die Klimakatastrophe und der Zusammenbruch der Biologischen Vielfalt standen während der Pandemie nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit. Auch Fridays for Future mussten auf unbestimmte Zeit pausieren und über alternative Aktionen nachdenken. 22 LBV MAGAZIN 1|23 „Vögel können fast alles, aber kein Feuchtgebiet schützen“ Gebietsbetreuer Tobias Petschinka und Jan Heikens mit Dr. Norbert Schäffer bei der Beobachtung von Wiesenbrütern. Arnulf Conradi beim Vogelbeobachten. I N T E R V I EW

FOTOS: © 2022 IF... PRODUCTIONS / FILMPERLEN, JÖRG ADOLPH Aber Sie haben trotzdem weitergemacht? Im Dokumentarfilm sollte sich doch immer die Zeitgeschichte spiegeln und wir können gar nicht verstecken, was um uns herum passiert. Also haben wir aus der Not eine Tugend gemacht und Corona wurde zu einem Thema: Mit Masken und Stirnlampen drehten wir zum Beispiel auf einem nächtlichen Dachboden, als Norbert Kotproben bei der letzten deutschen Kolonie der Großen Hufeisennase einsammelte, um sicherzustellen, dass diese Fledermäuse das Virus nicht übertragen können. Dieser Drehtag fühlte sich so aufregend an, als würden wir gerade einen Katastrophenfilm produzieren. Und plötzlich kannte jeder das Fachwort Zoonose und das wurde auch eine wichtige Verbindung zu unserem Filmprojekt. Denn eine wesentliche Ursache für den in den letzten Jahrzehnten beobachteten Anstieg von neuen, zwischen Tier und Mensch übertragenen Infektionskrankheiten ist die rasant voranschreitende Zerstörung des Lebensraums von Wildtieren. Die Pandemie hat uns somit deutlich gezeigt: Wenn wir gegen die Natur leben, wird sich die Natur gegen uns wenden. Wie fällt ein Vergleich Ihres letzten Films Das geheime Leben der Bäume mit Vogelperspektiven aus? Man kann die Filme gut miteinander vergleichen, denn Vogelperspektiven ist aus den Erfahrungen mit Das geheime Leben der Bäume hervorgegangen. Im Vergleich zum Vorgängerfilm scheint mir hier die Gewichtung der filmischen Stilmittel ausgewogener zu sein. Für mich ist es der rundere Film, der sich mehr Zeit für die dokumentarischen Szenen nehmen kann. Zudem bin ich mit dem Thema Naturschutz noch lange nicht fertig, sondern möchte weiterhin eine andere Perspektive anbieten, die sich deutlich von den gängigen Naturdokus und deren Erzählmustern unterscheidet. So ist Vogelperspektiven ein Film geworden, der nicht nur abgehoben in wunderschönen Bildern schwelgt, sondern durch die Beobachtung der konkreten Naturschutzarbeit deutlich geerdet in der Realität ist. Und welche Unterschiede und Parallelen gibt es zwischen Dr. Norbert Schäffer und Peter Wohlleben außer der Frisur? [lacht] Als Unterschied wäre auf jeden Fall die Körpergröße zu nennen: Peter Wohlleben ist ja fast zwei Meter groß. Als „Deutschlands bekanntester Förster“ und internationaler Bestseller-Autor ist er eine populäre Person und vieles über ihn ist bereits aus den Medien bekannt. Zudem polarisiert er stark. Für die einen ist er „das Beste, was dem Wald passieren konnte“, für die Forstwirtschaft ist er die größte Plage seit dem Borkenkäfer. Das macht es für eine genaue dokumentarische Beobachtung nicht eben leicht. Auf dem Film lasteten große Erwartungen und es war auch ein Kampf gegen Vorurteile. Das war bei Norbert Schäffer anders: Seine Arbeit findet eher im Unsichtbaren statt und es ist für ihn wichtig, mit möglichst unterschiedlichen Gruppen im Gespräch zu bleiben, um geduldig, humorvoll und mit viel Fachwissen zu überzeugen. Das trifft sich gut mit meinen Interessen: Es fällt mir nicht leicht, die „große Bühne“ zu filmen, lieber beobachte ich die Arbeit im Hintergrund. Wenn Sie nach dieser Drehzeit nun einen Vogel vor sich herfliegen sehen, denken Sie heute anders über ihn als vor dem Film? Keine Frage – ich habe durch die Filmarbeit gelernt, Vögel in ihren Lebensräumen besser wahrzunehmen und wertzuschätzen. Ich habe mir ein gutes Fernglas zugelegt und bin natürlich Mitglied beim LBV geworden. Wie das Wissen über die Vogelwelt den Blick verändert, zeigt sich eindrücklich am viel besungenen Mauersegler: Wenn man den durch Häuserfluchten fliegen sieht, ist das schon sehr beeindruckend. Wenn man aber noch ein bisschen was über seine Biologie weiß, dann öffnet sich eine „Welt des Staunens“, wie Arnulf Conradi sagen würde. LBV MAGAZIN 1|23 23 „Mir ist der Kontrast wichtig, also die Zweistimmigkeit im Film, und was daraus entsteht“ Ein Schild mit einem besonderen Appell. Tarnfotograf Ralph Sturm.

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