Wie geht es unseren Jungvögeln? Statusbericht Nr. 1-22

Nachrichten aus der Geiernische

Dagmar und Recka |© Markus Leitner © Markus Leitner
Inzwischen prägt ein relativ harmonischer Umgang die Beziehung der beiden

Ein wichtiger Bestandteil des Auswilderungsprojekts ist das lückenlose Monitoring vor Ort. Hierbei werden die ausgewilderten Jungvögel rund um die Uhr beobachtet und sämtliche Aktivitäten nach einem international standardisierten Aufnahmeprotokoll aufgenommen. So kann die Entwicklung und das Verhalten begleitet und dokumentiert werden. Dadurch können etwaigen Fehlentwicklungen entgegengewirkt und Probleme frühzeitig erkannt werden.

Unsere Beobachtungen wollen wir natürlich auch mit Euch teilen und werden in Zukunft in loser Folge neue Informationen an dieser Stelle veröffentlichen.

Nun sind unsere beiden jungen Bartgeierdamen tatsächlich schon drei Wochen in ihrer Felsnische im Nationalpark Berchtesgaden und es ist endlich Zeit für ein kleines Fazit.
Grundsätzlich: Die beiden entwickeln sich großartig und es geht ihnen sehr gut.

Zwangsläufig werden wir immer wieder darauf zurückkommen, das Verhalten von Dagmar und Recka in einen Vergleich mit unseren letztjährigen beiden Schützlingen, Wally und Bavaria, zu setzen. Hierbei zeigen sich einige Parallelen, aber auch gewisse Unterschiede können möglicherweise deutlicher erkannt werden.

Eine Sammlung an Videos findet ihr in unserer Bartgeier 2022 Youtube Playlist und die Portraits der Beiden werden wir ständig aktualisieren.

 

 

Nahrungsaufnahme: Hervorragend

Recka frisst ein großes Stück mit Fleisch |© Markus Leitner © Markus Leitner
Recka beim Bearbeiten eines größeren Stücks

Die beiden haben einen großen Appetit und verbringen einen Großteil ihrer Zeit mit Fressen und dem Bearbeiten der Nahrung. Dabei kommen den beiden die hervorragenden Anpassungen der Bartgeier zur Aufnahme dieser Nahrung zugute. Sie üben auch fleißig den Einsatz ihres Schnabels, als wichtiges Werkzeug zum Zerkleinern und Bearbeiten der Aasstücke.  Die beiden nehmen derzeit etwa um die 500g Nahrung pro Tag zu sich, also deutlich mehr als erwachsene Bartgeier.

Wir sorgen dafür, dass immer ausreichend Nahrung in der Nische ist, damit dieser Konkurrenzfaktor keine Rolle spielt.

Auch die Ausscheidungen werden sehr regelmäßig ausgestoßen – übrigens dem angeborenen Verhalten nach immer in Richtung Nischenausgang, was mehr oder weniger gut gelingt.

 

 

Komfortverhalten: Gründlich und regelmäßig

Recka putzt sich |© Markus Leitner © Markus Leitner
Die ausgiebige Pflege des Gefieders gehört zu den wichtigsten Beschäftigungen und ist ein Indikator für Wohlbefinden

Unter Komfortverhalten versteht man sämtliche Tätigkeiten, die der Körperpflege zugeordnet werden können. Dies ist auch meist ein guter Indikator für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Tiere. Die beiden erledigen das sehr gründlich und intensiv. Dazu gehört ein ausschweifendes Durchkämmen des Brustgefieders oder auch ein Kratzen an den Ansätzen der Schwungfedern, die durch teilweise nur durch artistische Verrenkungen erreicht werden.

 

 

Wasserstelle: Wird gut und gerne angenommen

Die Wasserstelle, die wir abgedichtet haben, damit sich das Wasser etwas länger darin hält, erfreut sich inzwischen auch großer Beliebtheit. Beide trinken bzw. spielen häufig mit der Wasseroberfläche und waren zumindest auch schon mit den Beinen darin. (an anderer Stelle hatten wir schon einmal erklärt, dass dies ein „luxuriöses Extra“ darstellt, in freier Natur im Horstbereich so gut wie nie vorkommt und aufgrund des Fleischanteils an den Knochen auch bei hohen Temperaturen genügend Wasser zugeführt wird).
Interessanterweise ähneln die Bewegungen die Recka hier vollzieht, jenen die beim Färben des Gefieders mit eisenoxidhaltigem Schlamm durchgeführt werden.

 

 

Recka versucht zu baden

Interaktion: Erst einseitig – nun ausgewogener und gemeinschaftlicher

Recka und Dagmar beim schnäbeln |  © Markus Leitner © Markus Leitner
Schnäbeln gilt grundsätzlich als Zuneigungsbekundung, in der Regel üblich bei verpaarten Vögeln

Recka war von Anfang an die deutlich dominantere und zeigte häufiger aggressives Verdrängungsverhalten gegenüber Dagmar, das sich mit harmlosem Schnabelpicken und aufgeregtem Schnattern äußerte. Teilweise verfolgte sie sie und scheuchte Dagmar aus ihrem Horst oder machte ihr Nahrungsstücke streitig.  Dies ging meist mit schrillen Lautäußerungen einher. Allerdings waren die Rufe nie so intensiv, anhaltend und häufig wie letztes Jahr bei Wally und Bavaria. Dagmar zeigte kaum Gegenwehr und ließ sich sowohl von ihren jeweiligen Aufenthaltsorten vertreiben als auch ansprechende Futterstücke abjagen.

Inzwischen hat sich die Situation aber deutlich verändert (etwa seit dem Zeitpunkt, seitdem Dagmar wieder in die Nische zurückgebracht wurde): Die beiden scheinen sich besser aneinander gewöhnt und die jeweiligen Gegenüber als Mitbewohnerin der Felsnische akzeptiert zu haben. Vor allem Recka sucht immer wieder die Nähe zu Dagmar und bettelt auch teilweise noch, wenn auch längst nicht mehr so aggressiv.  Nähe löst bei weitem nicht mehr zwingend ein aggressives Verhalten aus, teilweise konnten wir sogar Körperkontakt beim nebeneinander schlafen, vorsichtiges Schnäbeln oder einträchtiges Futterpicken beobachten.
Es kommt meist nur noch zu deutlich kürzeren Streitereien.

Nachdem die letztjährige Beziehung der Nischenpartnerinnen schon äußerst harmonisch und relativ entspannt ablief, scheint sich dies heuer weiter fortzusetzen bzw. sogar noch auf höherem Niveau zu gestalten.

 

 

Training der Flugmuskulatur: Unterschiedlicher Start – nun beide deutlich zunehmend

Dagmar beim trainieren der Flugmuskulatur |  © Markus Leitner © Markus Leitner
Dagmar beim Trainieren der Flugmuskulatur

In den ersten Tagen war von beiden nur eine geringe Anzahl von echten Flügelschlägen zu verzeichnen, wobei dies bei Recka sehr schnell erheblich zunahm. Sie erreichte schon nach 4 Tagen in der Nische die immense Summe von 262 Schlägen. Sie bewegte sich bis zur Mitte der zweiten Woche nach der Auswilderung auf einem deutlich höheren Niveau als Dagmar, die erst nach einer Woche über 100 Flügelschlägen kam. Von da an stieg Dagmars Leistung aber rapide an, bis sie schließlich am 23.06. Recka erstmalig und von da an bis zum Erscheinen des Berichts (28.06.) stetig überholte. Auffällig ist dabei, dass von diesem Zeitpunkt an beide Kurven annähernd parallel verliefen und am Ende von beiden die enorme Leistung von mehr als 400 Flügelschlagen pro Tag erreicht wurde.  

Angesichts dieser Leistungen wäre ein Ausflug ab sofort im Bereich des möglichen.
Im Schnitt probieren die Jungvögel einen ersten Flugversuch zwar erst im Alter von 120 Tagen, jedoch gibt es durchaus Frühstarter und weit ist es auch zu diesem Datum nicht mehr hin. Unsere beiden Schützlinge sind heute (28.06.) exakt 114 (Dagmar) bzw. 111 (Recka) Tage alt.

Hier zum Vergleich die Entwicklung von Wally und Bavaria im vergangenen Jahr.

 

 

Verlauf der Flügelschläge

Verlauf der Flügelschläge |  © David Schuhwerk © David Schuhwerk
Der bisherige Verlauf der Flügelschläge. An einigen Tagen sind die Daten noch nicht vollständig, da phasenweise keine Sicht vom Monitoringzelt aus herrschte.

Weitere Beschäftigungen und Aktivitäten

Recka beobachtet ihre Umgebung |© David Schuhwerk © David Schuhwerk
Recka beobachtet aufmerksam ihre Umgebung

Neben den bereits genannten hauptsächlichen Aktivitäten bleibt aber natürlich auch noch Zeit die Nische und ihre Umgebung zu entdecken. Dabei werden zum Beispiel die flinken Bewegungen von Schmetterlingen und Felsenschwalben – die ein Nest in der Nischendecke besitzen - aufmerksam beobachtet und verfolgt. Auch die Schafwolle oder Stöckchen aus dem Horst werden bearbeitet und umher transportiert. Die ein oder andere Pflanze wird mit dem Schnabel bearbeitet und Steine umgepflügt, die sich dann mitunter – wohl eher unabsichtlich – den Abgrund hinunter verabschieden.

 

 

Raumnutzung und Bewegung: Anfangs verhalten – inzwischen wird auch geklettert

Dagmar wandert gerne im steileren Bereich |© Silke Moll © Silke Moll
Vor allem Dagmar klettert gerne im steileren Bereich und bleibt auch mal über Nacht außerhalb der eigentlichen Nische

Wie im letzten Jahr beschränkte sich in den ersten Tagen nach der Auswilderung der Bewegungsradius auf den oberen Teil der Felsnische. Mit zunehmender Dauer (und der Tatsache, dass beim Füttern, das meiste Material im unteren Teil landet) weiteten sie dies aus und haben sich nun den Hauptteil der Nische erschlossen. Dies fand deutlich schneller statt als bei den beiden letztjährigen, vor allem was Dagmar betrifft. Beide sitzen auch ausgesprochen gerne im schon steilen Bereich unterhalb des Nischenplateaus.  


Einige der ausgeprägten Vorlieben und Muster, die letztes Jahr schon erkennbar waren, setzen sich heuer auffällig ähnlich fort: Beispielsweise finden beide den Platz am Zaun der nordwestlichen Ecke über dem steilen Abhang besonders interessant, wohl weil sich von dort der beste Ausblick über die Umgebung bietet. Nach der Umstellung der Webcam ist dieser im Gegensatz zum letzten Jahr nun hervorragend einsehbar.

Dort halten sie sich aber auch ganz gerne zum Schlafen auf.

Besonders begehrt zum Ausruhen ist auch die quasi entgegengesetzte Ecke (hinter der kleinen Wasserstelle): Dort findet sich bereits am Morgen ein schattiges Plätzchen in der insgesamt ostseitig ausgerichteten Felsnische.

Anders als Wally und Bavaria scheinen die beiden jedoch häufiger zum Ausruhen oder Schlafen in ihre Horste zu gehen. Recka hat hierbei gezeigt, dass es doch eine Stelle an der linken Horstseite zur Felswand hin gibt, die auch vom neuen Webcamwinkel schlecht eingefangen werden kann.

 

 

Monitoring und Infostand: Tolles Team und (fast) immer was zu sehen

Steinadler oberhalb der Halsgrube |© David Schuhwerk, LBV © David Schuhwerk, LBV
Und manchmal wird auch das Monitoringteam zum Beobachtungsobjekt - dem benachbarten Steinadlerpärchen entgehen die Aktivitäten in ihrer Nachbarschaft natürlich nicht

Das Leben am Monitoringplatz ist beinahe schon wieder der Normalzustand geworden.
Ohne das große Team, bestehend aus vielen engagierten und motivierten Praktikant*innen und Ehrenamtlern, sowie Mitarbeiter*innen des Nationalparks wäre ein Projekt dieser Größenordnung nicht möglich.

Dabei ergeben sich auch täglich spannende Einblicke in das Leben der Beiden – manchmal sieht man aber auch nichts…

Und auch der täglich besetzte Infostand sowie die wöchentlichen Führungen sind ein unersetzlicher Bestandteil des Gesamtkonzepts.

 

 

Dagmars kurzer, vorzeitiger „Ausflug“

Die Rettungsaktion |© Ellen Steinbach © Ellen Steinbach
Schwierige Geländebedingungen bei der Rückholaktion von Dagmar

Am Dienstag, den 15. 06. ist Dagmar am späten Nachmittag vom oberen Teil über den Felsaufschwung aus der Nische hinausgerutscht und hat dort erst einmal die Nacht verbracht. Am Morgen des darauffolgenden Tages konnte unsere aufmerksame Praktikantin Ellen um kurz nach 7 Uhr beobachten, wie Dagmar durch eine wirklich sehr schmale Lücke im Zaun entwischte und sich danach eine steile, abschüssige und steinschlaggefährdete Rinne hinaufbewegte. Das Bartgeierteam aus LBV und Nationalpark war von der Früh an im Einsatz, um sie wieder sicher in die Auswilderungsnische zurück zu Recka zu bringen.

Die Aktion gestaltete sich als schwierig, da sich Dagmar in gefährliches Terrain begeben hat. Mit telefonischer Unterstützung der Bartgeierexperten Michael Knollseisen, Franziska Lörcher vom VCF und mit Hilfe professioneller Bergführer gelang es dem Team am Abend, sie einzufangen und wieder zurückzusetzen

 

 

Durchschlupf beseitigt

Dagmar wieder zurück |© David Schuhwerk © David Schuhwerk
Nach der Aktion konnten wir Dagmar ziemlich erschöpft aber ansonsten unversehrt in ihren Horst in der Nische zurückbringen

Die Stelle am Zaun mit dem Spalt haben wir identifiziert und sie wieder sicher und professionell verbaut, sodass so etwas nicht mehr passieren sollte. (Dies zeigte auch, wie wichtig der Zaun ist, um genau solche Fälle zu verhindern. Er soll die ausgewilderten Vögel ja nicht einsperren, sondern nur verhindern, dass sie in der noch nicht flugfähigen Phase in schwieriges Gelände abwandern – sie können relativ gut bergauf steigen, aber kommen ohne Flugfähigkeit kaum wieder irgendwo runter – und dort möglicherweise Schaden erleiden und nicht gefüttert werden können).

von David Schuhwerk,

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