Mehr Wildnis zulassen!
Schutzgebiete ohne wirtschaftliche Nutzung haben einen hohen ökologischen und kulturellen Wert
Nutzungsfreie Großschutzgebiete bieten die einmalige Chance, ursprüngliche Natur und ihre Prozesse zu erleben und zu erforschen. Sie sind Heimat und Rückzugsgebiet für viele lebensraumtypische, oft zugleich bedrohte und seltene Arten. Und sie schaffen trotz Nutzungsaufgabe neue wirtschaftliche Perspektiven für die Region durch sanften Tourismus und Umweltbildung.
Ungenutzte Großschutzgebiete wie Nationalparks, Wildnisgebiete oder die Kernzonen von Biosphärenreservaten sind in unserer Gesellschaft zwischenzeitlich mehrheitlich positiv belegt. So ergab eine von der Universität Würzburg gestellte Umfrage für die beiden bayerischen Nationalparks einen bayernweiten Zustimmungswert von 96 Prozent. Und das kommt nicht von ungefähr.
Ungenutzte Großschutzgebiete sind der Gegenentwurf zu unserer heutzutage gesteuerten und immer intensiver genutzten Kulturlandschaft. Ebenso unterscheiden sie sich von anderen rechtlichen Schutzgebietsformen wie beispielsweise Naturschutzgebieten, Naturparks usw., da diese einer regelmäßigen menschlichen Nutzung oder Pflege unterliegen.
Nutzungsfreie Großschutzgebiete als Naturlabore
Akzeptiert man nutzungsfreie Großschutzgebiete mit der Zielausrichtung Wildnis, so akzeptiert man damit auch Entwicklungen, die sowohl zufällige Ereignisse (z.B. Erdrutsch, Lawine) als auch den steuernden Einfluss ökosystembezogener Störungen (z.B. Feuer, Stürme, Insektenbefall) einbeziehen – Prozesse der Ökosystementwicklung, die ungeplant und ergebnisoffen ablaufen.
Nutzungsfreie Großschutzgebiete sind als moderner, zukunftsorientierter und überzeugender Ansatz in der Weiterentwicklung des Naturschutzgedankens zu werten. Über den Schutz natürlicher Prozesse entwickelt sich Wildnis. Dabei prägen Wandel und langfristige Zyklen das Naturgeschehen. Die Effekte von Wildnis durch Prozessschutz bieten dem Naturschutz neue Entwicklungschancen, neue Sichtweisen und neue Einblicke in die Natur.
Für die Forschung wiederum eröffnen sich viele interessante Fragestellungen und Forschungsansätze. Denn nutzungsfreie Großlandschaften erlauben es, ergebnisoffene Prozesse der Ökosystementwicklung gerade auch unter den Bedingungen des globalen Klimawandels zu beobachten und zu analysieren. Sie sind Naturlabore, in denen wir von der natürlichen Entwicklung, von der Selbstorganisation der ökologischen Systeme und deren Elastizität und Resilienz lernen können.
Ursprüngliche Artenzusammensetzung in möglichst unverfälschter Form
Als weiteres Qualitätskriterium repräsentieren nutzungsfreie Großschutzgebiete ursprüngliche Naturlandschaften und beinhalten häufig auch komplette Floren- und Faunengemeinschaften in langfristig lebensfähigen Beständen.
Der Wert und das Ziel von Großschutzgebieten ist nicht eine maximale, von Neophyten, Neozoen oder wirtschaftlich relevanten Arten angereicherte Artenzahl.
Vielmehr geht es um die ursprüngliche, lokaltypische Artenzusammensetzung in möglichst unverfälschter Form, die unseren Großschutzgebieten ihre naturschutzfachliche Qualität verleiht. Im Falle von Waldökosystemen sei darauf verwiesen, dass sich gewisse ökologische Prozesse erst in reifen, alten sowie entsprechend großen räumlich und zeitlich kontinuierlichen Wäldern entfalten.
Sie können folglich nur in den nutzungsfreien Wäldern von Großschutzgebieten erkannt, beobachtet und verstanden werden – nicht jedoch in unseren kurzlebigen und künstlich gestalteten Wirtschaftsforsten.
Großschutzgebiete haben auch einen sozialen Aspekt
Nicht vergessen dürfen wir die Bedeutung von nutzungsfreien Großschutzgebieten wie z.B. Nationalparks für uns Menschen: Sie ermöglichen eine intensive emotionale Naturbegegnung und bilden ein (globales und lokales) naturgeschichtliches und kulturelles Gedächtnis angesichts einer globalen Domestikation von Natur.
Nutzungsfreie Großschutzgebiete wie Nationalparks sind daher eng mit sozialen Aspekten verknüpft. Denn, möchte eine moderne Gesellschaft dem Einzelnen ein gutes Leben ermöglichen, dann muss sie auch Räume zur Verfügung stellen, die es ermöglichen, eine Naturbeziehung aufzubauen und ein Naturbewusstsein zu entwickeln.
Gerade Nationalparks mit ihren herausragenden Naturlandschaften, ihrem Arten- und Biotoppotenzial und ihren Naturerfahrungsmöglichkeiten stehen hier zweifelsohne an erster Stelle. Nicht umsonst gehört Umweltbildung zu den Kernaufgaben einer Nationalparkverwaltung.
Wenn wir also eine gelungene Naturbeziehung für ein menschliches Dasein als notwendig erachten, dann können wir nutzungsfreie Großschutzgebiete auch als einen Akt staatlicher Daseinsvorsorge begreifen.
Autor: Dr. Franz Leibl, Leiter der Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald. Dieser Artikel erschien zuerst im LBV Mitgliedermagazin VOGELSCHUTZ, Ausgabe 01/2019, S. 36-37